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Leben ist Bewegung      imeerDSC00114.jpg

Von Claudia Sophia Cappel

Meine ersten Berührungspunkte mit Qigong hatte ich 1986 auf einem Taiji-Kurs, in dem wir die „Acht Brokate“ übten. Danach sollte noch mindestens ein Jahr vergehen, bis ich während eines zweisemestrigen Studienaufenthalts in den USA Kontakt zu Mitstudenten aus China und Taiwan bekam und ernsthaft begann mich für die chinesische Kultur zu interessieren.

Nachdem ich über zwei Jahre einmal wöchentlich Taijiquan und Qigong geübt hatte, hat mich etwas bis in die Tiefen berührt. Diese für mich „so andere Art der Bewegung“ ließ mich nicht mehr los. Ich kam damals vom Leistungssport und hatte Wettkämpfe im Schwimmen, Rettungsschwimmen, Langstreckenlauf und Bergsport hinter mir. Die Beschäftigung mit Qigong war für mich ein Weg weg vom Leistungsdenken hinein ins Spüren. Langsam wurde mir bewusst, dass ich mir durch Übertreibungen mehr schadete als gut tat. Doch dieser Prozess dauerte Jahre. Es brauchte Krankheiten und Verletzungen und eine haarscharfe Situation beim Skibergsteigen.

Qigong bedeutet für mich im Gegensatz zum Sport – der Begriff kommt vom lateinischen „disportare“, „sich zerstreuen“ im Sinne von sich ablenken – ein „Sich Sammeln“. Mich sammeln, Qi sammeln, in Kontakt treten mit der mich umgebenden Natur, mich einfügen in die Harmonie dieser wundervollen Schöpfung. Mit der Zeit ist mir bewusst geworden, dass wir ähnlich wie Linsen ständig Kraft aufnehmen und wieder abgeben – mal weniger, mal mehr.

Qigong ist ein übergeordneter Begriff, der ein sehr umfassendes System an chinesischen Bewegungskünsten bezeichnet. Auch das Taijiquan kann man darunter fassen, sofern es nicht ausdrücklich als Kampfkunst betrieben wird. Seine historischen Wurzeln liegen in der Philosophie von Daoismus, Buddhismus und Konfuzianismus, in der Kampfkunst, der Lebenspflege, der Medizin, dem Schamanismus und der Spiritualität. Viele Erkenntnisse wurden aus Beobachtungen der Natur und der Tierwelt gewonnen. Die daraus entwickelten Systeme umfassen jeweils alle Lebensbereiche, das heißt den Menschen als Ganzheit sowie als Teil eines größeren Ganzen. In diesem Kontext steht der Mensch als „Mittler zwischen Himmel und Erde“ und kann nur in diesem Zusammenhang verstanden werden, genauso wie einzelne Körperbereiche nicht getrennt voneinander existieren können. Alle Bereiche sind miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig.

Der wesentliche Faktor, der diese Verbindung herstellt, ist das „Qi“ – in unseren Breiten zumeist als „Lebensenergie“ übersetzt. Es durchströmt in verschiedenen Arten und Abstufungen alle Seinsformen auf dieser Erde sowie im gesamten Kosmos. Ohne Qi und die grundlegende und treibende Kraft, die dahinter steht, wäre Leben, so wie wir es kennen, gar nicht möglich. Aus dem Griechischen kennen wir das „panta rhei“ – „alles fließt“. Im Chinesischen sagt man: „Fließendes Wasser fault nicht.“ Es ist wichtig, dass dieses Qi immer in Bewegung, immer im Fluss bleibt. Kommt es zu Stockungen oder Stauungen, so entstehen disharmonische Zustände von „Fülle“ oder „Leere“. In der Natur zeigen sie sich beispielsweise als Dürre oder Überschwemmungen, im menschlichen Körper als Verspannungen, Schmerzen oder andere Symptome. Durch die Übungen des Qigong soll das Qi im Körper bewegt und zum harmonischen Fließen gebracht werden. „Gong“, was soviel meint wie „Arbeit“, „Training“ oder „Übung“, bedeutet hierbei, dass es sich nicht um ein einmaliges Üben handelt, sondern einen ständigen Prozess der Entwicklung und des Bewusstwerdens darstellt.

Schon lange Zeit ist in China bekannt, dass neben Blutkreislauf, Lymph- und Nervensystem noch ein anderes, feineres System unseren Körper durchzieht oder besser gesagt: durchfließt. In diesem System fließt das, was die Chinesen Qi nennen. In der Energielehre wird dieses feinere System als allen anderen Systemen übergeordnet betrachtet. Die Wege, auf denen das Qi, die Lebensenergie, durch unseren Körper strömt, nennen wir Energieleitbahnen oder Meridiane. Jeder Meridian versorgt das Gebiet, durch welches er fließt, steht in Verbindung zu einem Organ und in Wechselbeziehung zu anderen Körperbereichen und Meridianen. Kommt es zu einer Störung im Energiesystem und bleibt diese über längere Zeit bestehen, so wird unser physischer Körper – medizinisch diagnostizierbar und messbar – krank. Helfen wir unserem Körper, diese Störungen so schnell wie möglich zu beheben und uns wieder zu harmonisieren, so können wir gesund bleiben oder werden.

Ziel des Qigong ist es, den Qi-Fluss im Körper zu harmonisieren, auszugleichen oder zu verbessern und in diesem Sinne die Gesundheit zu fördern. Dabei geht es auch darum zu Natürlichkeit zurückzufinden, einem Gefühl für die eigenen natürlichen Bedürfnisse sowie zu natürlichen, harmonischen Bewegungen und auf diesem Weg Verspannungen und Blockaden zu lösen. In Zeiten starker Anspannung oder Belastung habe ich häufig die eine Stunde Qigong-Üben am Abend wie einen kurzen „Urlaub im Alltag“ erlebt. Wirbelnde Gedanken konnten sich beruhigen, Emotionen sich besänftigen und ich kam in einen Zustand innerer Sammlung. Natürlich löst Qigong keine schwierigen Situationen, aber es schenkt eine Pause, Zeit, den Körper, die Psyche und die Emotionen zu regulieren, Abstand zu gewinnen, Kraft zu tanken um sich erholt den alltäglichen Aufgaben zuzuwenden.

Die Wirkungen des Qigong gehen über reine Entspannung weit hinaus. Durch die vertiefte Wahrnehmung werden innere Bedürfnisse bewusst und können entsprechend ausgeglichen werden. Gleichzeitig intensiviert sich die Verbindung zu unserer Umgebung – zur Erde, die uns trägt, zu unserer höheren Führung, zur uns umgebenden Natur und unseren Mitmenschen. Aus der inneren Ruhe entstehen Achtsamkeit und Präsenz. Wir können gezielt Energie aufnehmen und dadurch unsere Vitalität steigern. Im Körper wird das Nervensystem beruhigt, die Verdauung angeregt, die Atmung vertieft. Die sanften Bewegungen regen die Durchblutung an und verbessern die Versorgung des gesamten Organismus mit Nährstoffen. Auch sind positive Auswirkungen auf den Lymphfluss spürbar. Muskeln, Sehnen und Gelenke werden harmonisch be- und entlastet, die so genannte "Gelenkschmiere" (Synovialfüssigkeit) angeregt. Die aufrechte Körperhaltung entlastet die Wirbelsäule. Standfestigkeit und Gleichgewicht werden verbessert, die Bewegungssicherheit im Alltag nimmt dadurch zu. Ein besseres Gleichgewicht beugt Stürzen vor – besonders vorteilhaft für Senioren wie auch für Skifahrer und Snowboarder.

In der Medizin wird Qigong therapieunterstützend und therapeutisch eingesetzt, im Leistungssport als Ausgleich zu einseitigen Trainingsbelastungen und zur Verbesserung der Regenerationsfähigkeit. Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz überwiegend sitzen, können mit Qigong ihre oftmals verspannte Muskulatur lockern und dehnen sowie die Funktion ihrer Organe verbessern. Generell kann jeder Mensch Qigong üben, der offen und bereit ist, sich auf etwas Neues einzulassen.

Aus der Vielzahl von Qigong-Übungen, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden sind, kann man sich das aussuchen, was den eigenen Bedürfnissen entspricht. Natürlich sollte auch die Vermittlung der jeweiligen Zielgruppe angepasst sein. Für Kinder eignen sich beispielsweise Übungen, die Tiere nachahmen, sehr gut und eine spielerische Umgangsweise mit Grundhaltung und anderen Prinzipien. Manche Menschen können besser vom Alltag abschalten, wenn sie sich auf komplizierte Bewegungsabläufe konzentrieren, andere finden einen leichteren Zugang über stille Übungen, die ganz ohne äußere Bewegungen auskommen. Für ältere Menschen bieten sich zunächst einfache Formen, die das Gleichgewicht trainieren, an. Kampfsportler trainieren häufig so genanntes „hartes Qigong“ mit dem Ziel, ihren Körper widerstandsfähig gegen Verletzungen zu machen. Für welche Form auch immer sich ein Mensch entscheidet, bleibt seinem eigenen inneren Spüren überlassen.

Das Qigong-Üben bietet auch die Möglichkeit, die nach innen gerichtete Wahrnehmung zu aktivieren, in sich zu lauschen und in einem Zustand der Stille die größeren Zusammenhänge zu erahnen. Damit kann sich auch das Prinzip des „Wu Wei“ erschließen, das „Tun durch Nichttun“ oder „Handeln ohne zu handeln“, das nichts mit Faulheit oder Trägheit zu tun hat. Im Bewusstsein des Wu Wei oder anders ausgedrückt in der Natürlichkeit sollte jedes Tun eines Menschen im Einklang mit der ganzen großen Schöpfung stehen.

Wenn ich jetzt zurückblicke, so habe ich in meinem Leben immer wieder Hilfen gehabt. Es ging immer weiter und Stufe um Stufe aufwärts. Vieles hat sich verändert in den Jahren, so auch das Qigong, wie ich es jetzt übe. In der Studienzeit und danach übte ich hauptsächlich Taijiquan und bewegtes Qigong. Inzwischen sind es auch ruhigere und stille Übungen. Auch trainiere ich nicht mehr systematisch, sondern das, was ich gerade brauche, entweder den Jahreszeiten oder den Bedürfnissen meines Körpers entsprechend. Manche Übungen entstehen spontan aus einer Situation oder einem Zustand heraus.

Mein Leitspruch ist über die Jahre der Gleiche geblieben: Leben ist Bewegung! Bewegung bedeutet Veränderung und ständiges Neu-Formen. In der Ruhe können wir die innere Bewegung wahrnehmen und in der Bewegung zur Ruhe kommen. In der Stille erst kann sich uns ein unerschöpfliches Potential an Kraft erschließen.

Vorwort aus: „Qigong für Einsteiger“ – Ein special des Taijiquan und Qigong Journals Dezember 2003. ISSN: 1611-1702; ISBN 3-9808747-2-9                             ikmeerSC00112.jpg

  • Claudia Sophia Cappel,
  • geb. 1964, Dipl.-Sportlehrerin, Heilmasseurin, unterrichtet seit 1992 Taijiquan und seit 1994 Qigong. Ausbildung in Taijiquan und Daoyin Yangsheng Gong von 1992 bis 1997 bei Teng Jian in Köln, Gründungsmitglied der Interessenvertretung der Qigong-LehrerInnen und Taiji Quan-LehrerInnen Österreichs (IQTÖ) 1997, Mitarbeit im Referat für Aus- und Fortbildung der IQTÖ, berufstätig in der Sportrehabilitation.
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